Psychotherapie im digitalen Zeitalter

Sie wurde zum Symbol der Psychoanalyse, einer der ersten psycho­therapeutischen Methoden: die Couch von Sigmund Freud. Doch kann die einstige Praxis-Couch im digitalen Zeitalter durch die Couch zu Hause ersetzt werden? Online-Psychotherapien bieten Vorteile – und einige Stolpersteine.

Der Hauptvorteil einer Online-Therapie liegt in der Ortsunabhängigkeit. Claudia Friess ist Fachpsychologin für Psychotherapie FSP mit eigener Praxis. Sie sagt: «Wer in einer abgelegenen Region wohnt oder im Ausland weilt, dem bietet eine Online-Therapie einfacheren Zugang zu psychologischer Unterstützung.» Zudem könne sie die Hemmschwelle senken, sich Hilfe zu suchen, erläutert die Psychologin, denn: «Manche öffnen sich lieber in ihrem vertrauten Umfeld, etwa im eigenen Wohnzimmer.»

So wirksam wie eine Präsenz-Therapie?

In einer gross angelegten Metaanalyse in den USA wurden zahlreiche Studien zu Online-Psychotherapien untersucht. Fazit: Die Behandlungseffekte videogestützter Therapien lassen sich weitgehend mit denjenigen von Präsenz-Therapien vergleichen. Forschende des Psychologischen Instituts der Universität Zürich kommen zu einem ähnlichen Schluss. Eine videogestützte Online-Therapie unter Anleitung einer Fachperson kann also die gleiche positive Wirkung entfalten wie eine Präsenzsitzung. Claudia Friess bestätigt dies. Wichtiger sei etwas anderes: «Ob online oder in der Praxis – ein zentraler Faktor für den Erfolg jeder Psychotherapie ist die Therapeut-Patient-Beziehung.» Dabei brauche es online etwas mehr Engagement, um Nähe und Vertrauen auf­zubauen, und manchmal würden nonverbale Signale wie die Körperhaltung fehlen, um Situationen ein­zuschätzen. Ansonsten erlebt die Expertin Online- und Präsenz-Therapien als gleichwertig.

Sinnvoll für viele Themen

Eine Online-Therapie bietet sich für viele Themen an – von Selbstwert über Essverhalten, Ängste und Burn-out bis zur Paar- und Sexualtherapie. Auch bei Angst- oder Zwangsstörungen eignet sie sich, etwa wenn jemand nicht fähig ist, sein Zuhause zu ver­lassen. Doch Claudia Friess betont: «Bei schweren psychischen Erkrankungen und Störungen mit veränderter Realitätswahrnehmung, wie sie unter anderem bei Psychoseerkrankungen auftreten können, rate ich klar von einer Online-Therapie ab. Hier ist die direkte Nähe zur Klientin oder zum Klienten essenziell.» Oft ist eine Mischung aus Online- und Präsenzsitzungen ideal. Man trifft sich zum Beispiel für ein Erstgespräch in der Praxis – und führt weitere Sitzungen online durch. Gerade Berufstätigen bietet ein solches Hybridmodell hohe Flexibilität. «So kann man sich etwa im Büro für eine Online-Therapiesitzung zurückziehen», sagt Claudia Friess. Doch wie findet man die ideale Fachperson für das Bearbeiten des eigenen Themas? Der Fachverband FSP, die Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen – zu finden unter www.psychologie.ch – ist ein guter Ausgangspunkt für eine erste Recherche. Claudia Friess nennt weitere Quellen: «Fragen Sie im Bekanntenkreis, bei der Hausärztin oder beim Hausarzt oder starten Sie eine Internetsuche. Schon beim Vertiefen in die Webseite einer Fachperson gewinnt man einen Eindruck, ob es passen kann.» Danach vereinbart man ein Vor­gespräch – online oder in der Praxis, um zu ermitteln, ob die Chemie stimmt.

Zahlt die Krankenkasse?

Zusatzversicherungen übernehmen oft Leistungen für Online-Therapien. Bei der Grundversicherung ist es komplexer. Seit 2022 können zugelassene Psychotherapeutinnen und -therapeuten mit ärztlicher Verordnung teilweise ihre Online-Leistungen abrechnen. Am besten klären Sie die Kostenübernahme im Voraus mit der Grund- oder Zusatzversicherung ab. Gibt diese grünes Licht oder sind Sie bereit, selbst zu bezahlen, stehen die Haus-, Büro- und Ferienwohnungstür offen für den Erfolg einer Online-Therapie auf der eigenen Couch.

Suzana Cubranovic

 

Hürden bei Online-Psychotherapien

Vertrauensaufbau:
Die nonverbale Kommunikation ist eingeschränkt. Gesprächs­pausen beispielsweise fühlen sich anders an als in Präsenzsitzungen.

Keine schweren Störungen:Bei schweren psychischen Erkrankungen wie einem Verlust des Realitätsbezugs oder Identitätsstörungen ist die Nähe entscheidend. Betroffene sollten immer eine
ärztliche Fachperson aufsuchen – und zwar in der Praxis.

Emotionale Distanz:
Manche Menschen fühlen sich ohne direkten Augenkontakt eher einsam.

Lange Wartezeiten:
Online-Termine sind nicht zwingend früher verfügbar als ein Praxistermin. Um die Wartezeiten bis zu einer Therapie zu überbrücken, können sich Mental Health Apps anbieten wie Moodpath, HelloBetter oder Deprexis bei leichten Depressionen, MindDoc und Recovery Record bei Essstörungen und bei Stresssymptomen Headspace und Calm.

Doch Vorsicht:
Apps ersetzen nie eine persönliche Psychotherapie mit einer Fachperson. Bei schweren psychischen Erkrankungen sind Apps ungeeignet.